Leseprobe
 

P E N V E N T I N U E

Jörg Kleudgen

"Du magst mir vielleicht nicht glauben, James, aber ich habe Beweise für die Richtigkeit meiner Theorien." Selten zuvor hatte ich Ian Emerith, meinen Gastgeber, so erregt gesehen, wie an diesem Abend in Penventinue, als die Luft schwer und gesättigt war mit dem betörenden Duft von Hartriegel und wilden Narzissen.
Gegen Mittag war ich hierher gekommen, hatte wie schon so oft eine der schmalen cornischen Straßen von Lostwithiel in Richtung Meer genommen und war, kurz bevor die A 3269 in Fowey zur Küste stieß, in den Weg abgebogen, der zwischen von Mauern eingefaßten Schafweiden einen sanften Hang hinauf zu dem Anwesen meines Freundes führte. Es war ein herrlicher Tag. Das Weiß des Farmhauses vor azurblauem Himmel erinnerte mich an Photographien Santorins.
Emerith war mir am niedrigen Holzgatter in der Umfassungsmauer entgegengekommen und hatte mich herzlich begrüßt. Ihm zu begegnen, nach langen Wochen im verregneten und nebligen Moloch London, war stets, als trete man einem der Riesen biblischer Vorzeit entgegen. Diesen Eindruck erweckte er jedoch nicht, weil er so außerordentlich gewaltig von Statur war, sondern weil seine Erscheinung ihn über jeden anderen erhaben wirken ließ, als einen unversiegbaren Quell sprudelnden Lebens in der blutleeren Gesellschaft, die ihn umgab.
Stolz hatte er mich hinter das Haus geführt, wo sich einer der sonderbarsten Gärten Cornwalls erstreckte.
"In meinem Garten", so pflegte er oft zu sagen, "finde ich den Weg in mein innerstes Selbst. Aber er ist auch Ausgangspunkt all meiner Reisen."
Was er damit gemeint hatte, verstand ich erst später, nämlich als er mich zu einem von einer zwischen vier Pflöcken gespannten Schnur eingezäunten Areal führte. Das so gebildete Rechteck war in zwei Quadrate unterteilt, von denen eines aus Holz gefertigte geometrische Figuren in blauer und roter Farbe beherbergte.
"Tritt ein!", hatte er mich aufgefordert und auf das leere Feld innerhalb der Umzäunung gedeutet. Nur zögerlich war ich seiner Aufforderung gefolgt und augenblicklich von einem höchst eigentümlichen Gefühl befallen worden. Mir standen die Haare zu Berge, oder vielmehr: nach allen Richtungen ab. Gleichzeitig begann meine Umgebung auf mir unerklärliche Weise an Schärfe zu gewinnen, während die Farben auf der Farbskala verschoben wurden, so daß etwa das Gras einen kräftigen Purpurton annahm. Ich taumelte und fand mich in Emerith’ Armen wieder.
"Nun, was hast Du gefühlt?" fragte er mich neugierig und erklärte mir dann, daß ich nicht weniger als drei Stunden in dem verbracht hatte, was er als seinen ‚Garten‘ bezeichnete, und daß er die ganze Zeit über auf mich gewartet habe.
Um viele solcher Geheimnisse wusste der Alte, der erst in den letzten Jahren in Penventinue seßhaft geworden, nachdem er lange als Zigeuner durch die Welt gereist war. Ich wusste nicht, wo er geboren und unter welchen Umständen er aufgewachsen war und sein umfassendes Wissen erworben hatte, aber sein Vorbild hatte meine Einstellung zum so genannten Fahrenden Volk grundlegend geändert und mit dazu beigetragen, daß ich mein eigenes Leben weitgehend abseits materieller Bedürfnisse geführt hatte. In all den Jahren, in denen ich ihn nun schon kannte, schien er kaum gealtert.
Eines Tages war er einfach auf der Farm geblieben, die den Vagabunden seit vielen Jahren bereits als Winterstellplatz gedient hatte. Seine Sippe, so erzählte man sich im nahen Dorf, kehrte mit ihren klapprigen Wagen wohl zwei - dreimal im Jahr bei ihm ein. Meist kamen sie mitten in der Nacht und fuhren schon am nächsten oder übernächsten Tag weiter, ganz so als ertrügen sie es nicht, zu lange an einem Ort zu verharren.
Was mich an Penventinue seit jeher gestört hatte, war die schier allgegenwärtige Anwesenheit der Katzen, die geheimnisvoll schweigend auf Kaminsimsen und Schränken hockten, und durch nichts aus ihrer Ruhe zu bringen waren.
"Versuch gar nicht erst, sie zu zählen", sagte Emerith, als er mich auf einem Weg von lose verlegten Steinplatten zum Haus und in den Salon führte. "Letztes Mal waren es dreizehn, aber sie kommen und gehen, wie sie wollen. Der älteste ist Iacopo. Du müsstest ihn kennen. Ich habe ihn seit fast zwanzig Jahren."
Das Tier lag auf einem Samtkissen am Fenster, von wo aus wir einen phantastischen Ausblick hinaus auf die Bucht hatten. Es war auffallend groß, und ich hätte einen meiner Finger darauf verwettet, dass es eine echte Wildkatze war. Die kurzen Ohren waren ausgefranst und vernarbt von zahlreichen Revierkämpfen. Der Kater musterte mich aus Augen einer undefinierbaren Farbe zwischen Lindgrün und Bernstein, bevor er den schwerfälligen Kopf gelangweilt in eine andere Richtung drehte.
Emerith lud mich ein, an dem für den Nachmittagstee gedeckten Tisch Platz zu nehmen. Die Scones waren noch warm, und es gab dazu Clotted Cream und Marmelade, die seine Haushälterin Hannah offensichtlich selbst gemacht hatte.
"Du musst hungrig und durstig sein, James", stellte Emerith fest. "Diese drei Stunden in meinem Garten…".
"Was war das, was mir da passiert ist?"
"Frag mich nicht nach einer Erklärung! Ich habe mich selbst schon oft in diesen Zustand begeben, ohne dieses Rätsel meiner zigeunerischen Freunde klären zu können. Natürlich tat ich es nicht alleine. Leander half mir dabei."
Leander, das undurchschaubare Faktotum, Emeriths stummer Diener; ich wusste, dass er mich genauso wenig leiden konnte, wie ich ihn. Und als habe er nur darauf gewartet, dass sein Name erwähnt wurde, öffnete sich die Tür, die vom Salon in einen geräumigen Flur führte, und der Mann trat mit unbewegter Miene ein. Mitsamt seiner Sprache schien ihm auch die Fähigkeit, Gefühle auszudrücken, abhanden gekommen zu sein.
"Weißt Du, warum ich mich damals für Leander entschieden habe?", hatte mich Emerith während eines früheren Besuchs gefragt. "Er hat nie gelernt zu schreiben, und da er stumm ist, kann ich ihm all meine Geheimnisse anvertrauen. Nicht, dass ich welche hätte…".
Ich hatte nie herausgefunden, ob denn mein Gastgeber Sympathie für den Diener hegte. Jedenfalls schien er ihm bedingungslos zu vertrauen.
"Nein, danke, Leander, wir brauchen nichts mehr. Sie können James’ Gästezimmer im Obergeschoss vorbereiten. Er leistet uns ein paar Tage Gesellschaft."
Und dann, während wir zum Gebäck bronzefarbenen Darjeeling tranken, hatte Emerith von seinen Forschungen berichtet. Seit Jahren beschäftigten ihn Artussage und Gralsmythos. Er hatte soeben in einer farbenfrohen Erzählung seine Vorstellung vom Leben am Hofe König Artus geschildert und das Bild eines ungezügelten Barbaren heraufbeschworen. Mein Widerstand hatte mich wahrscheinlich weniger an der Entweihung des heroisch verklärten Artusbildes entzündet als an Emerith’ Vortragsstil, der ihn selbst wie einen Zeitgenossen jener Sagengestalt hatte erscheinen lassen. Und dann war eben jener denkwürdige Satz gefallen: "Ich habe Beweise für die Richtigkeit meiner Theorien!"
"Dann solltest Du sie veröffentlichen, Ian. Aber wehe, sie sind nicht hieb- und stichfest. Die Wissenschaft wird Dich auseinander nehmen!"
"Oh, mir geht es nicht mehr darum, mich jemandem zu beweisen. Mein ganzes Leben lang habe ich das tun müssen. Weißt Du, James, ich bin müde, unendlich müde. Nicht wahr, Iacopo, wir sind lebensschwer, satt an Freude und Glück, aber auch Enttäuschung und Verlust."

Beim Erklingen seines Namens hatte der Kater den schweren Schädel gedreht und sah mir nun wieder geradewegs in die Augen. Ich konnte mich nur mit größter Mühe aus diesem hypnotischen Blick lösen. In diesem Moment hoffte ich, Leander hätte wenigstens aus dem Gästezimmer, in dem ich übernachten würde, die Katzen entfernt. "Nehmen wir an", fuhr Emerith fort und griff in ein Regal hinter seinem Rücken, "dieser Kelch aus Blei sei der Heilige Gral. Denkst Du, jemand würde mir glauben, wenn ich das behauptete? Würdest Du mir glauben, James?"
Ian Emerith hatte mich zeit unserer Freundschaft so oft überrascht, dass mich selbst das nicht gewundert hätte, und so sagte ich: "Dir glaube ich alles, Ian!"
"Darauf wollen wir trinken! Ich habe letzte Woche in meinem Keller einen vorzüglichen andalusischen Sherry wiedergefunden, ich glaube, es ist der beste, den ich je getrunken habe…".
Mit diesen Worten wechselte er das Thema und begann von seinen Reisen zu berichten, die ihn sein Leben lang in einem einzigen fortwährenden Abenteuer durch ganz Europa und weit über dessen Grenzen hinaus geführt hatten. War ein einziges Leben genug, um diese Fülle von Eindrücken zu schöpfen? Ich muss gestehen, dass ich mir in diesem Moment wie schon so oft zuvor unbedeutend und leer neben dem Freund vorkam.
Leander brachte den Sherry, wir tranken und redeten, redeten und tranken, bis unsere Zungen schwer und unsere Glieder müde geworden waren. Schließlich dankte ich Emerith für die angeregte Unterhaltung und verabschiedete mich mit der Bemerkung, dass ja in den nächsten Tagen noch genügend Zeit für eine Fortsetzung des Gesprächs sei.
"Man kann nie wissen, James", entgegnete der Freund orakelhaft. "Man kann nie wissen…".
Ich stieg die knarrende Treppe hinauf und fand mein Zimmer für mich vorbereitet. Müde sank ich aufs Bett und legte nur das notwendigste an Kleidern ab. Allerdings kam ich nicht zur Ruhe. Mir war, als sei ich nicht allein, und ich musste mehrmals das Licht einschalten, um mich zu vergewissern, dass nicht eine der Katzen hereingekommen war. Als ich der Unruhe endlich überdrüssig wurde, entschied ich mich, im Garten frische Luft zu schnappen. Obwohl Leander das Fenster gekippt hatte, kam mir die Luft im Zimmer stickig vor.
Ich verließ das Haus durch den Vordereingang und umrundete es dann auf dem Kiesweg, der im Mondlicht beinahe unwirklich hell leuchtete.
Ian Emerith saß noch immer dort, wo ich ihn verlassen hatte. Er las in einem Buch und trank aus dem schweren Becher. Eine Rotweinflasche stand auf dem Tisch vor ihm. Einen Augenblick lang beobachtete ich ihn durch das große Fenster. Ich war sicher, dass er mich hier draußen im Dunkeln nicht sehen konnte. Sollte ich mich zu ihm gesellen und seinen Frieden stören? Die Tür stand einen Spaltweit offen. Es waren nur ein paar Schritte. Nur ein paar Schritte. Im Dunkel des Gartens hinter mir vernahm ich ein Geräusch. Schlich dort eine dieser verwünschten Katzen herum? Ich sah kein Lebewesen. Wenn es eine Katze gewesen war, war sie vermutlich zwischen den dichten Hortensienbüschen verschwunden, die ein hervorragendes Versteck bildeten.
Es war ein lauer Maiabend und der Boden war noch aufgeheizt von der Tagessonne. Leuchtkäfer schwirrten, von den Duftstoffen ihrer Partner angelockt, über den Abendhimmel. Ich konnte mir nicht vorstellen, auf mein Zimmer zurückzukehren und beschloss, einen Spaziergang hinunter nach Fowey zu machen. Also folgte ich der schmalen Straße, die ich am Nachmittag heraufgekommen war, bis sie auf die Hauptstraße stieß, und hielt mich dann nach links. Schon bald sah ich die ersten Häuser des Ortes, der um diese Stunde einen verlassenen Eindruck machte. In einem wellenförmigen Auf und Ab, als wolle sie die Bewegungen der nahen See nachahmen, schlängelte sich die Straße zwischen den schiefen, alten Häusern hindurch. Ich bog auf einen Pfad ab, der zur Küste führte. Schon bald hatte ich den Ort hinter mir gelassen und sah mich der weiten Bucht von Fowey gegenüber. Ich wusste, dass ich, wenn ich auf diesem Weg weiterging, durch den Küstenwald zu einem einsam gelegenen Fort gelangte, doch mich schreckte der Rückweg ab, den ich dann hätte bewältigen müssen. Ich fühlte nun eine ausreichende Müdigkeit und Entspannung in meinem Körper, so dass ich sicher war, in Penventinue den erhofften Schlaf finden zu können.
Als ich jedoch an der Straßenabzweigung ankam, sah ich, dass das Anwesen hell erleuchtet war. Ein ungutes Gefühl überkam mich. Was mochte geschehen sein?
Ein Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk verriet mir, dass ich eine geschlagene Stunde lang unterwegs gewesen war.
Das Gefühl drohenden oder bereits geschehenen Unheils verstärkte sich, während ich den steilen Weg zwischen mannshohen Mauern hinaufstieg. Vor dem Haus parkte ein Auto. Als ich näher heran war, sah ich, dass es ein Polizeiwagen aus dem nahe gelegenen St. Austell war. Die Rückseite Penventinues wurde von tragbaren Scheinwerfern beinahe taghell erleuchtet. Irgendjemand war ohne Rücksicht durch Emerith’ Garten gelaufen und hatte die eigentümliche Ordnung der geometrischen Figuren durcheinander gebracht. Mir schoss der seltsame Gedanke durch den Kopf, dass mein Freund diese Ordnung nicht wieder würde herstellen können.
"Sind Sie Mr. Hughes?" rief mich in diesem Augenblick eine Stimme jenseits der blendenden Scheinwerfer an. "Wir haben uns Sorgen um Sie gemacht!" Der Mann trat aus der alles verschlingenden Schwärze ins Licht. Er war einer der Polizeibeamten, die mit der Spurensicherung beschäftigt waren. "Was ist geschehen? Ich habe einen Spaziergang zur Küste gemacht…".
"Dann haben Sie eventuell Glück, dass Sie noch leben." Er trug einen ausgesprochen ernsten Gesichtsausdruck zur Schau. "Die Haushälterin hat uns gerufen. Als sie Mr. Emerith einen Tee bringen wollte, konnte Sie ihn im Salon nicht finden. Auf dem Boden jedoch waren verwischte Blutspritzer… eine ganze Menge Blut, um ehrlich zu sein. Mr. Emerith und Sie waren verschwunden. Unsere Experten suchen den Garten und die nähere Umgebung nach der Leiche ab. Sind Sie jemandem auf dem Weg hierher begegnet?"
"Nein, ich…", ich musste schlucken. "Entschuldigen Sie bitte, ich bin völlig fassungslos. Als ich ging, saß Mr. Emerith am Tisch. Er hatte keine Feinde. Wer sollte ihn getötet haben? Ein Einbrecher? Mein Gott, er war so großzügig. Alle haben ihn geliebt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er nicht mehr lebt."
"Waren Sie schon lange mit Mr. Emerith befreundet?"
"Ja, seit vielen Jahren schon. Ich habe ihn auf der Universität kennen gelernt, lange bevor er sich enttäuscht von der Wissenschaft zurückzog, um sich seinen eigenen Studien zu widmen."
"Könnte einer seiner Kollegen, ein ehemaliger vielleicht…?"
"Nein, das ist unvorstellbar. Ich kenne viele dieser Leute. Niemand wäre in der Lage einen Mord zu begehen. Womit soll Mr. Emerith getötet worden sein?"

"Die Tatwaffe haben wir leider genauso wenig nicht finden können wie den Toten." Der Polizist seufzte vernehmlich: "Ich muss Sie bitten, Fowey nicht zu verlassen. Solange diese Sache nicht geklärt ist, muss ich Sie leider alle als Verdächtige betrachten. Die Spurensicherung wird ihre Arbeit in etwa einer halben Stunde abgeschlossen haben. Wir kehren bei Tagesanbruch zurück. Versuchen Sie, etwas Schlaf zu finden. Wir werden Sie morgen früh verhören müssen."
"Ja, selbstverständlich. Ich werde tun, was ich kann, um dieses schreckliche Verbrechen aufklären zu helfen."
Leander betrat mit gewohnt undefinierbarem Gesichtsausdruck den Raum. Seine Augen ruhten forschend auf mir, als ich mich von dem Polizeibeamten verabschiedete und zu meinem Zimmer hinaufging. Weder er, fuhr es mir durch den Sinn, noch die Katzen, die mich ebenfalls mit ihren rätselhaften Blicken verfolgten, würden verraten können, wer der Mörder Ian Emerith’ war.

Am nächsten Morgen weckte mich das Licht der durchs Fenster hereinfallenden Sonne. Ich blieb in meinem Bett liegen und versuchte mich davon zu überzeugen, dass das, was am Abend geschehen Wirklichkeit und kein furchtbarer Traum gewesen war. Ian Emerith tot? Ich wägte ab, so wie es die Polizeibeamten tun würden, wer ein Motiv gehabt haben konnte, ihn zu töten. Wer war der Mörder gewesen? Leander? Hatte Emerith ihn dermaßen gedemütigt, dass der Mann sich nach Jahren entschlossen hatte, seinen Herrn zu töten? Hannah? Welches Verhältnis hatte sie zu Emerith gehabt? Gab es vielleicht eine Beziehung, von der ich nicht wusste? Konnte Eifersucht das Motiv für diese Tat gewesen sein? Oder war nicht doch die Theorie die glaubhafteste, dass ein Einbrecher meinen Freund erschlagen hatte? Würde die Polizei in der Vergangenheit forschen, die Zigeuner befragen, mit denen Emerith so viele Jahre umhergezogen war? Und was war mit mir? Welches Motiv hätte man mir unterstellen können? Als ich mich angekleidet hatte und zum Frühstück die Treppe hinunter stieg, hatte ich das Gefühl, keinen Bissen herunter zu bekommen. In meinem Hals saß ein Kloß, der sich nicht schlucken ließ.
Hannah erwartete mich mit verweinten Augen in der Küche.
"Leander ist verschwunden. Stellen Sie sich vor, die Polizei hält ihn für den Schuldigen. Glauben Sie das? Er war Mr. Emerith so treu ergeben, dass er sein Leben für ihn gegeben hätte. Ich habe versucht, das den Beamten verständlich zu machen, aber sie wollen mir nicht glauben. Wo mag er sich bloß herumtreiben?"
"Machen Sie sich keine Sorgen, Hannah. Er wird zurückkehren. In Fowey geht niemand verloren. Dieser Ort ist so sicher…"
Der Polizeibeamte, der in der vorangegangenen Nacht die Ermittlungen geleitet hatte, betrat in Begleitung zweier Männer die Küche. Er grüßte mich knapp und sprach dann in Richtung der Haushälterin: "Miss Hannah, wir werden jetzt die Zimmer und den Keller gründlich durchsuchen. Wenn Sie möchten, können Sie uns begleiten."
Hannah schüttelte den Kopf. Ihre Antwort verschluckte sie in einem neuerlichen Schluchzen.
Auch ich hatte kein Interesse daran, die Beamten zu begleiten. Hannah hatte frischen Tee aufgebrüht und Scones gebacken. Wir aßen und tranken schweigend, jeder in seine Gedanken versunken, bis die Polizisten zu uns zurückkehrten. Sie hatten nichts Verdächtiges gefunden, auch nicht in Leanders Zimmer.
"Wir hoffen, dass wir den Diener bald finden. Die Straßen sind abgeriegelt, ein Flugzeug kreist über der Gegend. Wir vermuten, dass er sich zum Bodmin Moor durchschlagen wird. Aber wir werden ihn finden!", versprach der Beamte. Er schien keinen Zweifel mehr daran zu hegen, dass Leander der Schuldige war.

Und dieses Urteil schien sich zu bestätigen, als der stumme Diener am Nachmittag gefunden wurde, nur wenige hundert Meter vom Haus entfernt zwischen Hecken kauernd. Man brachte ihn nach Penventinue, um ihn zu verhören, doch ich ahnte, dass dieses Unterfangen aussichtslos war. Er war und blieb stumm und – wie Emerith mir versichert hatte - des Schreibens unkundig. Die finsteren und hasserfüllten Blicke aber, die er den Beamten und mir zuwarf, schienen gegen ihn zu sprechen.
Er machte keine Anstalten, sich in irgendeiner Weise zu äußern. Nicht einmal durch Gesten wollte er sich verständlich machen oder den Polizisten eine Antwort geben. Er schien vollkommen unter Schock zu stehen. Wenn er nicht der Täter war, so kam mir in den Sinn, dann hatte er vielleicht mit angesehen, wie sein Herr getötet worden war. Ob der Mörder davon wusste?
"Wir vermuten, dass er das Haus verlassen hat, um die Tatwaffe in Sicherheit zu bringen. Er wird uns verraten, wo er Mr. Emerith’ Leiche versteckt hat", sagte der Polizeibeamte, der Leander unnötig fest am Arm umklammert hielt. Der Diener schien für ihn bereits unwiderruflich verurteilt. "Es gibt hier unendlich viele Möglichkeiten, etwas verschwinden zu lassen, aber wir werden es herausfinden." Ganz offensichtlich freute er sich über den raschen Fahndungserfolg. Ich bezweifelte jedoch, dass Leander für längere Zeit würde festgehalten werden können. Die Beweislage war mehr als dürftig.
Er wurde abgeführt.
Als die Männer gegangen waren, stand ich mit Hannah alleine vor der Tür. Wir schwiegen betreten.
"Halten Sie Leander für den Schuldigen?", fragte sie mich dann wie schon am Morgen.
"Ich habe ihn nie leiden können", gestand ich. "Aber nein, er hat Mr. Emerith nicht getötet. Könnten Sie sich das vorstellen? Sie kennen ihn besser als ich. All die Jahre, die er Emerith gedient hat… Und wohin sollte er die Leiche geschafft haben? Aber er muss irgendetwas wissen. Etwas, das seine Verstörung erklärt."
Ich schwieg einen Augenblick. Dichte Wolken trieben über den Himmel. Es würde bald Regen geben.
"Es wird bis zu seiner Rückkehr für Sie sehr einsam auf Penventinue sein, Hannah. Werden Sie hier bleiben? Wer wird sich um die Katzen kümmern, wenn Sie gehen?"
"Ja, ich werde bleiben. Ich glaube, das bin ich Mr. Emerith schuldig. Das Haus wird so bewahrt werden, wie er es geliebt hat. Ich werde mir einreden, dass er nur verreist ist, so wie früher, und dass er eines Tages zurückkehrt."

Ich wollte nicht länger in Penventinue bleiben. Mein Wagen parkte hinter dem Haus, dort, wo ich ihn bei meiner Ankunft abgestellt hatte. Hannah stand im Fenster im ersten Stock des Hauses und sah hinter mir her, als ich den Wagen wendete und die schmale Straße hinab fuhr. Sie winkte nicht. Ich fragte mich, was wohl in ihrem Kopf vorging. Im Dunkel des Fensters tauchte eine zweite Gestalt auf. Ein Mensch? Nein, es musste eine Katze sein. War es Iacopo, Emerith’ alter Kater?
Die Hecken rückten näher um meinen Wagen zusammen. Es war beinahe so, als wollten sie mich nicht gehen lassen. Ich musste dornigen Zweigen ausweichen, und Schlaglöchern, die sich in der Straße auftaten. Durch das Rütteln hatte sich die Tasche auf dem Beifahrersitz geöffnet. Den Koffer hatte ich am Morgen hastig gepackt, aber die lederne Tasche, in der ich meine Bücher zu transportieren pflegte, war im Wagen geblieben. Bleiern schimmerte etwas durch den Spalt. Das verkrustete Rot darauf war nur notdürftig abgewischt. Es erinnerte mich an eine Folge von Bildern.
In meinen Gedanken sah ich, wie ich die unverschlossene Tür zum Salon geöffnet hatte und eingetreten war. Emerith hatte keineswegs erschrocken über den unangemeldeten Besuch gewirkt, im Gegenteil, er schien gelassen, als er mich ansprach: "James! Schön, dass Du noch einmal herabkommst. Ich habe Dich erwartet, und ich glaube, ich weiß, weshalb Du gekommen bist."
"Glaubst Du das wirklich, Ian. Wahrscheinlich hast Du wie immer Recht. Ich habe keinen Schlaf finden können. Mir geht nicht aus dem Kopf, was Du gesagt hast…." – Aus dem Kopf… etwas war in meinem Kopf gewesen und hatte mich hierher kommen lassen, ein Gedanke, der sich mit aller Kraft dagegen gewehrt hatte, vergessen zu werden.
Ohne dass Emerith es gemerkt hatte, hatte ich den bleiernen Kelch ergriffen und hinter meinem Rücken angehoben.
"Was meinst Du, James? Das, was ich über König Artus gesagt habe? Meine Theorien über Nero und Marc Aurel? Das Bild, das ich von Jesus gezeichnet habe? James, ein Leben ist nicht genug, um…".
Der Kelch lag schwer wie ein Hammer in meiner Hand. Er war erstaunlich gut balanciert, wie eine Waffe. Iacopo gab ein kurzes Fauchen von sich. Ich sah, wie sich die Haare des Schattens an der Wand steil aufrichteten. Dann herrschte Stille. Totenstille. Emerith wog trotz seiner Statur erstaunlich wenig. In kaltem Licht erglühende Leuchtkäfer umschwirrten uns, während ich ihn auf meiner Schulter zu jenem Bereich seines Gartens hinüber trug, zu dem er mich bei meiner Ankunft geführt hatte. Während ich ihn vorsichtig dort ablegte, fragte ich mich, warum Emerith mir all das erzählt hatte. All diese Geschichten vom Gral und von Artus, von Alexander dem Großen, Dschingis Khan, Karl V. … all diese Ereignisse, die er so farbenfroh schilderte, als sei er selbst ihr Zeuge gewesen. Es stimmte. Er war müde gewesen, satt an Leben. Und er hatte einen Freund gebraucht, der das vollbrachte, was er selbst nicht gewagt hatte.

E N D E

Penventinue/Fowey, April 2002 – Neheim, April 2005